„ Was ist eigentlich Musiktherapie?“ bin ich in den letzten 28 Jahren unzählige Male gefragt worden. Oder „ für wen machst Du das?“ Oder „ warum eigentlich Musiktherapie und nicht etwas anderes?“
Früher brachten mich diese Fragen regelmäßig an meine Grenzen. Wie kann man jemanden, für den das alles neu ist, die Komplexität der Arbeits-, und Wirkungsweise von Musiktherapie in möglichst nur drei Sätzen erklären?
Es fällt mir immer noch schwer nur drei Sätze zu verwenden, aber ich rede mittlerweile gerne darüber.
Die Frage, die sich häufig daraus ergibt, ist : „ Wie wirkt Musik eigentlich?“
Musik begegnet unserem Selbst.
Wenn wir uns eine Harfe mit vielen Saiten vorstellen, die in ihrer Gesamtheit unserer Persönlichkeit, unserem Selbst entspricht, bringt Musik einzelne oder mehrere Saiten dieser Harfe zum Schwingen. Sie resonieren mehr oder weniger stark, lösen dazu passende Gefühle aus und breiten sich als „Stimmung“ im Bewusstsein aus. In dieser Stimmung, die völlig unterschiedlich sein kann, sind Erlebnisse, Eindrücke und Erinnerungen enthalten. Sie drücken sich in Bildern, Geschichten oder Rollenspielen aus.
Musik gibt niemals eine „Stimmung“ vor, die von allen Hörern gleich empfunden wird. Sie verbindet sich ganz individuell mit unterschiedlichen „Saiten“ in uns. Mit dem, was wir erlebt haben, wie wir geprägt sind, unseren Bedürfnissen, Sehnsüchten, und Abneigungen.
Musikstücke, egal welches Genres, sind in ihrer Struktur so komplex, dass häufig verschiedene Saiten der Persönlichkeitsharfe gleichzeitig in Schwingung geraten. Die Vielzahl der ausgelösten Gefühle kann vom Bewusstsein nicht mehr so gut wahrgenommen und differenziert werden.
Deshalb gehe ich in meiner Arbeit immer mehr zu einzelnen Klängen über. Die Wirkung löst häufiger ein konkretes Gefühl oder eine konkretere Erinnerung aus.
Seit kurzer Zeit kommt ein autistischer Junge zu mir in die Praxis.
Da spiele ich zum Beispiel Klänge mit Pedal auf dem Klavier, und er lauscht so lange, bis sie verklungen sind. Man sieht ihm an, wie er den Klang in sich aufnimmt. Vollständig.
In diesem Moment ist der Klang für ihn die ganze Welt. So intensiv habe ich selten jemanden lauschen sehen.
Eine Frau sang mit mir zusammen Töne und fing plötzlich an zu weinen, weil sie sich ihrer tiefen Einsamkeit bewußt wurde. Bei einer anderen Gelegenheit improvisierten wir über ein von ihr gemaltes Bild. Im Vordergrund war eine Welle zu sehen. Sie war sich sicher, dass ihr Spiel weich und ruhig werden würde. Nach einer „ aufwühlenden“ Improvisation sagte sie, dass sie vor ihrem geistigen Auge den Meeresgrund gesehen hätte, auf dem spitze Steine und bizarre Hindernisse von der Welle aufgewirbelt worden wären. Sie war überrascht, dass sie plötzlich Wut spüren konnte.
Klänge entstehen und lösen Gefühle aus. Oder Gefühle sind da, und können mit Klängen ausgedrückt werden. Unterdrückte Gefühle können so nach draußen gelangen. Aggression oder Wut sind plötzlich nichts schlechtes mehr, sondern bringen Lebendigkeit und Vielfalt ins Spiel.
Sie können bewußt wahrgenommen und schließlich losgelassen werden.